Was die Pflegekräfte betraf, kann ich nur sagen, dass sie zum Großteil sehr freundlich und zugewandt waren. Kaum das jemand von ihnen schlechte Laune mitbrachte. Dabei hatten sie doch eine Arbeit, die keinesfalls leicht zu nennen war. Jeden Tag mit todkranken Menschen zusammen zu sein, stellte ich mir nicht gerade einfach vor. Mir sind zwar in meiner Arbeit als Ergotherapeut auch todgeweihte Menschen begegnet, doch hatte ich immer nur punktuell, zu den Therapiezeiten, Kontakt zu ihnen. Ich hatte sicher eine größere Chance gehabt, diesen Personen mit der erforderlichen »therapeutischen Distanz« zu begegnen, als es das Pflegepersonal hier hatte.
Mir fällt dazu eine sechzigjährige Patientin ein, die wegen eines Suizidversuches an meinem damaligen Arbeitsplatz, in der Gerontopsychiatrie, aufgenommen wurde. Sie hatte ihn aus Angst vor dem Tod durch ihre Krebserkrankung unternommen. Sie saß im Rollstuhl, weil sie durch den Tumor der Lendenwirbelsäule nicht mehr gehfähig war. Die Metastasen waren bis zur Lunge vorgedrungen. Seit der Erkrankung hatte sie vermehrt Alkohol getrunken, ihr Ehemann kam mit der Situation zu Hause nicht klar. Über die Aufnahme in die Psychiatrie schien die Patientin sehr froh. Sie nahm an allen Angeboten teil, war sehr an den unterschiedlichen handwerklichen Angeboten interessiert, die wir in der Ergotherapieabteilung anboten. Sie versäumte nicht eine Therapieeinheit, war sehr kontaktfreudig und während der therapiefreien Zeiten motivierte sie Mitpatienten zu Gesellschaftspielen. Sie sagte selbst, dass sie sich in der Klinik gut von ihren negativen Gedanken ablenken könne.
Unser Oberarzt gab ihr im Höchstfall noch ein halbes Jahr zu leben. Doch wie sich zeigte, sollte er sich täuschen.
Als die Patientin sich stabilisiert zu haben schien, wurde sie entlassen. Insgesamt war sie vier Wochen in der Klinik gewesen.
Es dauerte aber nicht lange und sie wurde wieder eingeliefert. Ihr Hausarzt hatte sich keinen anderen Rat gewusst und ihr eine Überweisung ausgestellt. Sie hatte jeden Tag getrunken, um ihrer Ängste Herr zu werden. Die verordneten Antidepressiva schienen nicht die erforderliche Hilfe zu sein. Mit ihrem Ehemann war sie total zerstritten. Er war hilflos, kam mit der Situation überhaupt nicht zurecht und war eher eine Belastung als eine Hilfe für seine Frau.
Die Patientin war sehr verzweifelt, konnte sich aber in relativ kurzer Zeit wieder stabilisieren. Sie wurde wieder entlassen … und zwei Wochen später wieder aufgenommen. In dem gleichen instabilen Zustand wie vorher. Dieses Spiel wiederholte sich so lange, bis die Patientin nach eineinhalb Jahren starb.
Mir tat diese Frau sehr leid. Doch wirklich verstehen konnte ich damals ihre Verzweiflung nicht. Jetzt natürlich konnte ich nachempfinden, wie es ihr wohl gegangen war. Ertappte ich mich doch selbst dabei, wie ich meinen Gedanken nachhing, urplötzlich in einen Weinkrampf verfiel, weil mir die Verzweiflung schier das Herz zerreißen wollte. Meist drehten sich meine Gedanken um das Abschiednehmen müssen, von meinen Angehörigen. Oder ich musste erleben, wie ich stundenlang nur dumpf brütend auf der Couch lag. Depressiv und hoffnungslos.
Doch zurück zum Pflegepersonal. Ich weiß aus dem eigenen Berufsleben, dass sich hinter den Kulissen oft anderes anspielte, als vor den Patienten. Hier bekam ich davon natürlich nichts mit. Ich jedenfalls fühlte mich vom Pflegepersonal und auch von den Ärzten auf der Station gut betreut. Und das gilt für die ganze Zeit der Krankenhausaufenthalte während meiner Krebserkrankung.
Eigentlich stehengeblieben war ich bei meinem Anästhesiegespräch, das mit einer nochmaligen Untersuchung mit dem glücklichen Ergebnis endete, dass die Rachen-OP abgeblasen wurde. Ich verließ die Klinik endlich mal wieder in guter Laune. Ich kann mich erinnern, dass ich am späten Nachmittag noch meine achtzigjährige Tante besuchte, die auch bei uns im Ort lebte, um ihr die gute Nachricht zu bringen. Meine Frau war natürlich auch froh und glücklich, dass mir die OP erspart blieb.
Wie das Wochenende verlief, weiß ich nicht mehr. Entscheidend war aber sowieso der Montag danach. Denn da bekam ich einen Anruf aus der Klinik. Das Referenzgutachten war eingetroffen. Es bestätigte das T-Zell-Lymphom. Und das hieß, dass ich am Mittwoch im Krankenhaus aufgenommen werden würde, um mit der Chemotherapie zu beginnen. Es liest sich jetzt vielleicht merkwürdig: Ich freute mich!